Helga Nowotny: „Grimmige Wahrheiten“

Vom Umgang mit „grimmigen Wahrheiten“

von Helga Nowotny

In seiner Eröffnungsrede anlässlich der Nobelpreisverleihung 2016 zog Carl-Henrik Heldin, Vorsitzender der Nobel Stiftung, Parallelen zwischen unserer aktuellen Realität und der Welt des späten neunzehnten Jahrhunderts, in der Alfred Nobel lebte und arbeitete.

Nobels Ära war von rapider Industrialisierung und ökonomischer Ausweitung gekennzeichnet. Progressive politische Ideen für friedliche, internationale Kooperation erblühten, Nationalismus, Xenophobie, geopolitische Spannungen sowie Terrorismus gediehen jedoch ebenfalls. Anarchisten ermordeten einen russischen Zaren, einen österreichischen Herrscher sowie amerikanische und französische Präsidenten; der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete einen beinahe fatalen Schlag gegen die Europäische Zivilisation.

Die Ähnlichkeiten zur heutigen Welt sind klar erkennbar. WissenschaftlerInnen überraschen uns weiterhin mit erstaunlichen Entdeckungen und Milliarden von Menschen weltweit wurden aus der Armut gehoben. Aber dunkle Wolken haben sich am Horizont gebildet. Terroristen haben in Rache auf Europa gezielt, und Millionen von Flüchtlingen, die vor Kriegen und Hunger fliehen, strapazieren europäische Institutionen und sozialen Zusammenhalt. Populistische Strömungen haben sich gebildet, die zu geschlossenen Grenzen und neuen Mauern aufrufen; ihre Absage an etablierte Expertise hat Heldin zu einer „grimmigen Wahrheit“ geführt: Dass „wir es nicht weiter als gegeben ansehen können, dass die Menschen an Wissenschaft, Fakten und Wissen glauben.“

Natürlich werden unsere Erwartungen auf ewig in einem Spannungsverhältnis mit der Realität bestehen. Vor einem Jahrzehnt hätte fast noch niemand vorhergesehen, dass das europäische Projekt durch einen massiven Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden getestet werden würde. Bevor Donald Trump zum Präsident gewählt wurde, war es schwierig sich vorzustellen, dass ein verlogener Verschwörungstheoretiker, der allen Regeln der politischen Etikette entsagt, genug Unterstützung gewinnen könne. Auch vor dem Brexit Referendum erwarteten nur einige Wenige, dass eine Mehrheit der Britischen WählerInnen der Lüge aufsitzen würde, dass sie die Vorteile einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union behalten könnte, ohne auch die einhergehenden Verantwortungen weiter zu tragen.

Unsere Vorstellungskraft ist durch vergangene Erfahrungen eingeschränkt, und dies trägt zu einem Mangel an Voraussicht bei. Jedoch, während unsere Fähigkeit die Zukunft vorherzusagen limitiert ist, könnte wohl die sozialwissenschaftliche Erforschung der Probleme, denen wir heute gegenüberstehen, diese Einschränkungen aufweichen. Die Sozialwissenschaften werden häufig als pessimistisch eingeschätzt, tatsächlich basieren sie aber auf Hoffnung: Einem tief verankertem Glauben, dass soziale Besserung möglich ist.

Die intellektuellen Wurzeln der heutigen Sozialwissenschaften – Neuankömmlinge verglichen mit den Geistes- und den Naturwissenschaften – lassen sich in Nobels Welt wiederfinden. Der politische, ökonomische und soziale Aufruhr, der als Antwort auf die rasche Industrialisierung und Urbanisierung hervorgebracht wurde, hat Viele dazu veranlasst sich zu fragen, ob soziale Ordnung überhaupt möglich sei. Die Sozialwissenschaften entwickelten sich im Schatten des Nationalstaates, der eine funktionierende Verwaltung, moderne Institutionen und eine Politik entwickeln musste, um Ordnung zu unterstützen.

Vieles der Arbeit, die folgte, wurde von dem Glauben geleitet, dass technologischer Fortschritt untrennbar mit sozialem Fortschritt einhergeht. Heutzutage wird dieser Glaube vom International Panel on Social Progress – einem bedeutenden internationalem Versuch, basierend auf der Arbeit von einigen 300 SozialwissenschaftlerInnen – geteilt, welche die Wichtigkeit von good governance in allen Politikfeldern anerkennt. Good governance ist der Dreh- und Angelpunkt, der Gesellschaften zusammenhält in einer Ära ungleicher Globalisierung, beschleunigter, technologischer Innovation, wachsender Ungleichheiten und sozialer Ungerechtigkeit.

Hätten wir daher die politischen Vorkommnisse des letzten Jahres vorhersehen können? Tatsächlich beweist eine beeindruckende Menge an sozialwissenschaftlicher Forschung, dass die steigende öffentliche Unzufriedenheit mit den Politikschaffenden, die ignoriert oder einfach nicht bemerkt worden ist, sich seit geraumer Zeit angekündigt hatte.

Politiker, die Medien und die Öffentlichkeit haben die weiße Arbeiterklasse möglicherweise vernachlässigt, aber SozialwissenschaftlerInnen haben dies nicht. Man muss nicht Thomas Piketty zitieren, um zu wissen, dass steigenden Ungleichheiten nun das soziale Gefüge fortschrittlicher Wirtschaften zu zerreißen drohen. Solche Ungleichheiten sind seit den 1980er Jahren analysiert worden. Die Arbeits- und Lebensbedingungen für die gefährdetsten Bevölkerungsgruppen in Europa und den USA sind seit Jahren von SozialwissenschaftlerInnen untersucht worden.

Vieles von dem, was wir über Terrorismus wissen – die Zustände, die ihn vorantreiben, wer empfänglich für Radikalisierung ist, wie terroristische Netzwerke funktionieren – stammt währenddessen von SozialwissenschaftlerInnen, die geduldig Daten erhoben, unter oft schwierigen Bedingungen Interviews geführt und über viele Jahre Terrornetzwerke analysiert haben. Zudem existiert außerdem eine Vielzahl an Studien, welche Einblicke in die Eigenschaften von Nationalismus und Populismus geben.

Diese Probleme bestehen, trotz unserer Einblicke, aufgrund der komplexen Beziehungen zwischen wissenschaftlich-fundiertem Wissen und menschlichen Taten weiter. Kognitive Vorurteile beschränken unsere Fähigkeiten zukünftige Entwicklungen vorauszusehen und führen zu unbeabsichtigten Konsequenzen, wenn wir Ideen in Handlungen umsetzen. Wir sind nicht gut darin, die in überlappenden Systemen vorhandene, inhärente Komplexität zu begreifen, aus der große, unerwartete Geschehnisse hervorgehen können.

Wissen allein kann niemals Handlungen ersetzen. Graphen, Zahlenwerte, Simulationsmodelle und sogar scheinbar unbestrittene Fakten bewirken keine Unterschiede solange Handlungen und Zusammenhänge nicht berücksichtigt werden. Und dieser Umstand bringt zusätzliche Fragen hervor: Wie wenden wir das Wissen, welches wir haben, an, und was wird folgen, wenn wir es tun?

Wenn wir Heldins “grimmige Wahrheit” abwenden wollen, werden wir Brücken zwischen unserem Wissen und möglichen Handlungsverläufen bauen müssen. In einem Zeitalter, das nicht weniger unruhig ist als das Nobels, geben die Sozialwissenschaften uns die Hoffnung, dass unsere Situation anders sein könnte, weil sie das Wissen hervorbringen, das notwendig ist, um Veränderung zu schaffen.

Helga Nowotny, ehemalige Präsidentin des Europäischen Wissenschaftsrates, ist die Autorin von “The Cunning of Uncertainty”.

 

Dieser Artikel erschien bei Project Syndicate am 31.  Jänner 2017 unter dem Originaltitel “Harnessing the Hope of Social Science”

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